NMS Gassergasse

In einem kritischen Zeitungsartikel aus der NZZ über das Österreichische Schulsystem kam die Direktorin einer Neuen Mittelschule (NMS) in Wien zu Wort. Ich fand heraus, dass die Schule eine Woche später Tag der offenen Tür hat und entschloss mich hinzufahren. Dass ich dort pünktlich ankam, war ein Wunder, denn gerade heute schneite es zum ersten Mal in diesem Winter und auf der Strasse bildeten sich Autokolonnen. Warum den Bus nehmen, wenn man auch zu Fuss zur 1,6 km entfernten S-Bahn-Station spazieren kann? So habe ich jedenfalls den Zug pünktlich erwischt.

Blick aus dem Wohnzimmer

Die NMS Gassergasse 44 befindet sich in Matzleinsdorf unweit vom Wiener Hauptbahnhof. Vor dem Schulhaus steht folgendes Schild:


KMS steht für Kooperative Mittelschule. Folgende Abbildung zeigt die Organisation des Österreichischen Schulsystems:

Österreichisches Schulsystem

Die Unterrichtspflicht beträgt wie in der Schweiz 9 Jahre. Die Aufteilung erfolgt jedoch ganz anders als bei uns: Von der 1.-4. Klasse besuchen die Kinder die Volksschule. Anschliessend wechseln sie an die NMS (Neue Mittelschule) oder AHS (Allgemeinbildende höhere Schule). Die Zählung beginnt dabei wieder von vorne. Danach besteht grundsätzlich nur noch ein Jahr Schulpflicht. Folgende Möglichkeiten stehen den Jugendlichen nach 8 Schuljahren offen:
  • Sie setzen die AHS bis zur Matura fort. Anschliessend besteht die Möglichkeit, ein Kolleg zu besuchen. Dadurch ist es den Maturanden möglich, eine der BHS entsprechende Diplomprüfung abzulegen.
  • Sie besuchen eine BHS (Berufsbildende höhere Schule), wozu die HTL (Höhere Technische Lehranstalt), die HAK (Handelsakademie) und die HLW (Höhere Lehranstalt für wirtschaftliche Berufe) gehören.
  • Sie besuchen eine BMS (Berufsbildenden mittlere Schule), wozu die Fachschule und Handelsschule gehört.
  • Sie besuchen ein Jahr die Poly. (Polytechnische Schule) und anschliessend parallel zu einer Lehre die Berufsschule.
Zurück zur KMS Gassergasse. Ich werde von zwei 4.-Klässlern freundlich empfangen. Sie sorgen dafür, dass die Besucher einer Person zugeteilt werden, die sie durch das Schulhaus und in die verschiedenen Zimmer führt. In Wien können Eltern auswählen, an welcher Schule sie ihr Kind beschulen lassen wollen. Deshalb ist nun die Zeit, dass sie Schulen besuchen um verschiedene Einblicke zu bekommen. Im Januar erhalten alle Eltern von der Stadt einen Brief mit der Einladung, sich bei einer Schule ihrer Wahl vorzustellen. Dieses Prozedere nennt sich Schuleinschreibung.

Für mich interessant sind die persönlichen Gespräche, die ich mit den Lehrpersonen und mit der Schuldirektorin führen kann. Der hohe Anteil an Kindern mit nichtdeutscher Erstsprache (98%!) ermöglicht es der Schule, dass eine Klasse permanent von zwei Lehrpersonen unterrichtet werden kann. Oder anders ausgedrückt: Eine Lehrperson betreut 12 Jugendliche. Das ist phänomenal! Der Anteil der Jugendliche mit SPF (sonderpädagogischer Förderbedarf) ist an dieser Schule hingegen verhältnismässig gering. Wie diese Ressourcen genutzt werden, liegt in der Autonomie der Schule. Die NMS Gassergasse führt seit drei Jahren einen Schulversuch, das Lernmodell 44. In der Informationsbroschüre für die Eltern wird das Lernmodell leicht verständlich erklärt:


Die 1.-3. Klassen werden bereits nach dem neuen Modell beschult, die 4. Klasse ist eine so genannte Laptopklasse (siehe Angebote der Schule). Das Lernmodell 44 beinhaltet folgende Struktur: In den Kernfächern Englisch, Deutsch und Mathematik werden die Kinder in sechs klassenübergreifenden Niveaugruppen unterrichtet. In allen Parallelklassen finden die Fächer jeweils gleichzeitig als Doppelstunde statt. Die Leistungsgruppen sind flexibel, sodass ein Wechsel in eine höhere Stufe auch während des Jahres möglich ist. Nach der Bearbeitung eines Themas schreiben alle Jugendliche dieselbe Prüfung, die unterschiedlich schwierige Aufgaben beinhaltet. Die übrigen Schulfächer werden in den Stammklassen geführt, wobei es auch hier unterschiedliche Formen gibt. Bei einem verhältnismässig hohen Anteil an Lehrpersonen gibt es vielfältige Möglichkeiten der Zusammenarbeit: Teamteaching, Gruppenunterricht, Niveauunterricht, ...

Wie mir eine Lehrperson erzählt, soll auch im Lernmodell 44 flächendeckend mit Laptops gearbeitet werden. Ein Lehrer, der aktuell die 4.-Klässler unterrichtet, kann sich jedoch nicht vorstellen, wie dies umzusetzen sei, da die vielen verschiedenen Computermodelle und Betriebssysteme schwer unter einen Hut zu bringen sind. Ausserdem müssten wirklich alle Parallelklassen vollständig mit Laptops ausgestattet sein, damit in den Niveaugruppen dieselben Voraussetzungen gegeben wären. Die Schule hat nicht die Ressourcen, Laptops für alle Lernenden zur Verfügung zu stellen, und eine Eliteschule will hier niemand. Sicher ist, dass neue Medien an dieser NMS einen wichtigen Stellenwert einnehmen. Die Zukunft wird zeigen, was weiter kommt.

Stundenplan der Klasse 3a

Erwähnenswert ist der Projekttag am Dienstag. Die Direktorin, Frau Walach, erzählt mir, dass die Klassen an diesem Tag oft ausserschulisch lernen. Damit dies auch nachhaltig ist, müssen sie anschliessend eine Präsentation vorbereiten, die sie nach eigenen Vorlieben und Begabungen gestalten können. Am Freitag werden die Arbeiten präsentiert und bewertet.

Alle paar Wochen findet eine Themenwoche statt. Die Lehrpersonen bieten ein selbst gewähltes Thema an und die Jugendliche tragen sich in Listen ein, welche Veranstaltung sie besuchen möchten. Auch hier erfolgt eine Leistungsüberprüfung.

Im Schulhaus hängen Tafeln, die einen guten Überblick über die Angebote der Schule bieten:

Schulprofil

Mich interessiert, welche Folgen der Schulversuch für die Sozialkompetenzen der Jugendlichen hat. Im Gegensatz zum auslaufenden Modell findet der Grossteil des Unterrichts in der Niveaugruppe statt, sodass die Klassengemeinschaft nicht denselben hohen Stellenwert mehr hat. Die Direktorin meint, der Unterricht in der Kleingruppe käme den meisten Jugendlichen entgegen, da dies ein geschützter Rahmen sei, in dem sie sich wohl fühlen. Sie bauen eine Beziehung zu ihren Schulkameraden auf, aber auch zu den Lehrpersonen, die sie betreuen. Dass sich die Jugendlichen hier wohl fühlen, kann man heute spüren. Ein Schüler erzählt mir, dass die Lehrpersonen sehr freundlich zu den Schülerinnen und Schülern sind, ausser dies wird ausgenutzt. Dann könnten sie sehr streng werden.
Die Direktorin erzählt mir ausserdem, das Hauptziel der NMS sei, dass die Jugendlichen nach den vier Jahren einen Anschluss erhielten (s. Abbildung Österreichisches Schulsystem). Denn wenn dies nicht gelänge, sei Dauerarbeitslosigkeit oft die Folge. Gerade an einer Schule mit einem hohen Anteil an Jugendlichen mit Migrationshintergrund sei dieser Augenmerk besonders wichtig.

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